250 Millionen gehen auf die Straße

Protest kann wirken. Wenn viele mobilisiert werden können. So wie in Indien, wo am 26.11.2020 etwa 250 Millionen Menschen in einen Generalstreik getreten sind.

Das ist in Deutschland – hier müssten es im Verhältnis zur Bevölkerungszahl 13 Millionen sein – weder vorstellbar noch wahrscheinlich. Denn hier gehören keine 20 % der lohnabhängig Beschäftigten einer Gewerkschaft an. Der DGB hat 6 Millionen Mitglieder. Die alle auf der Straße? Schon das würde sich kein Phantast je ausmalen.

Von den anderen 80 % kann niemand erwarten, dass sie sich mobilisieren ließen, hätten sie doch nicht einmal die Rücklagen einer Streikkasse, würden also ohne zu arbeiten auch nichts verdienen, und ohne Rechtsschutzversicherung wohl auch arbeitsrechtliche Konsequenzen in voller Härte zu spüren bekommen.

Grundsätzlich sollte jeder Lohnabhängige auch Gewerkschaftsmitglied sein.

Leider hat das liberale Individualisierung-Ideal im Kapitalismus dazu geführt, dass jeder für sich selber steht – auch vor dem Chef. Allerdings sind Lohnabhängige vor ihren Chefs kleine Würstchen, die zu kuschen haben. Darum ist das Jeder-steht-für-sich grundsätzlich keine kluge Strategie. Nur eine energiearme.

Lohnverhandlungen auf Augenhöhe?

Faire Löhne aufgrund von Lohnverhandlungen auf Augenhöhe? Absurd, aber dennoch ein landläufiger Irrglaube.

Entlohnt wird nur bis zu der Höhe, die der Chef abzunicken bereit ist. Das ist prinzipiell weniger, als die Mitarbeiter verdient hätten. Denn was an ihnen eingespart wird durch zu niedrige Löhne, wird als höhere Bezahlung der Manager und Chefs sowie als Gewinne und Dividenden für die Anleger nach oben verteilt. Darum bekommen lohnabhängig Beschäftigte in nicht-leitenden Positionen niemals das, was sie verdient hätten, sondern nur das, was ihnen zugestanden wird. Der Schwächere muss sich immer dem Stärkeren beugen – oder zerbrechen, oder gehen.

Es könnte auch anders sein. Eine kritische Masse von Schwächeren müsste sich zusammen tun und gemeinsam dem Chef gegenüber treten. Mit der glaubhaften Androhung einer Arbeitsniederlegung.

Dann wäre der Chef in eine Situation geraten, in der er mit dem vollen Verlust seiner Wertschöpfung durch die Arbeit seiner Mitarbeiter rechnen müsste. Nur dann lege sich für ihn der Gedanke nahe, lieber weniger als gar nichts zu verdienen. Einzelne sind ersetzbar, aber nicht große Teile oder sogar ganze Teams und Belegschaften.

Diese Logik hat hierzulande ihre beste Zeit lange hinter sich (etwa seit Ende des 19. Jahrhunderts). Die Lohnabhängigen sind geteilt und werden beherrscht. Gemeinsam könnten sie stark sein. Aber dazu müssten sie sich aufraffen, Mut aufbringen und kämpfen wollen.

Um sich diesen Kraftakt zu ersparen, nehmen sie lieber weniger Lohn in Kauf. Und meistens auch noch schlechtere Arbeitsbedingungen, denn um die wird in tariflichen Auseinandersetzungen ja auch gekämpft. Nur wer wagt, gewinnt. Wer nicht wagt, hat schon verloren.

Die Chefs wagen immer, und gewinnen meistens. Die Lohnabhängigen hoffen ängstlich auf Gnade und Gunst der Herrschaften. Kein Wunder, wenn sich auch heute noch manche Chefs benehmen wie zu Feudalzeiten. Die Mitarbeiter tun es doch auch!

Einzeln wird man rumgeschubst und rausgekickt. Nur gemeinsam kann mit einem nicht mehr nach Gutsherrenart verfahren werden.

Die Arbeiteraristokratie

Das strukturelle Problem dabei ist das, was Lenin vor über 100 Jahren als „Arbeiteraristokratie“ bezeichnet hat. Uns hier in Deutschland mögen schlechte Löhne gezahlt werden, aber wir können uns davon trotzdem noch Billigprodukte aus ärmeren Ländern kaufen, wo die Lohnabhängigen noch mehr ausgebeutet werden. Darum können wir uns trotz unfairer Löhne relativ viel „leisten“. Und auf diesem Luxus ruhen wir uns lieber aus, als für gerechte Löhne zu kämpfen.

Die deutsche Mittelschicht ist wie ein moderner Feudaladel, der von der unfair entlohnten Arbeitskraft der deutschen Niedriglöhner und globalen Mittel- und Unterschicht der Arbeitenden in vielen anderen Ländern seinen Tisch deckt und die Wohnung einrichtet. Darum steht der Mehrheit der deutschen Lohnabhängigen der Sinn nicht nach Arbeitskampf oder gar Revolution. Die heimliche moralische Korruption durch relativen Wohlstand, sowie Verlustängste, wiegen zu schwer. Ausnahmen mit emotionalem Gegenschub oder ethischer Größe, die um der Richtigkeit der gerechten Sache willen in die Bresche springen, bestätigen die Regel.

Die kleine, selbsternannte Elite der Reichen und Mächtigen kann nur deswegen herrschen, weil die Vielen sie lassen. Weil die Meisten sich nur als Einzelne sehen und keinen Zweikampf mit ihren Herrschern wollen, seien es Chefs oder z.B. auch Vermieter. Das wissen die Herrschenden seit Jahrtausenden. Die Römer haben es „divide et impera“ genannt, teile und herrsche. Herrschen kann nur, wer imponierend auftritt und eine Masse an isolierten Individuen vor sich her scheucht.

Würde diese Masse an Individuen erkennen, dass sie sich nur zusammenschließen und gemeinsam gegen den Herrschenden zu wenden braucht, um ihre Interessen einzufordern, dann würde dessen Macht sofort vergehen. Macht ist etwas, das wir Anderen zugestehen, uns selber aber absprechen.

Darum ist die Welt, wie sie ist: Voller Ausbeutung und Zerstörung von Menschen, Tieren und Natur.

Das ist nicht nur die Schuld der Herrschenden, sondern auch der Beherrschten, weil sie sich beherrschen lassen. Gemeinsam könnten sie die Herrschaft jederzeit abschütteln. An der Arbeit, aber auch in der Politik.

Bloß kein Generalstreik?!

Darum ist ein Generalstreik in Deutschland rechtswidrig. Er wäre eine Macht, die zu viel verändern könnte. Er wäre ein system changer, wie er heute mehr not tut denn je.

Je länger wir warten, desto weniger wird zu retten sein. Und bald darauf haben wir zu lange gewartet, so dass wir uns nicht mehr frei zusammenschließen und an die Öffentlichkeit treten können, weil die digitale Beeinflussung und Kontrolle all unsere Gedanken, Worte und Bewegungen kennen und darauf einwirken wird.

Eine Vor-Form ist bereits jetzt in der Netflix-Dokumentation „The social dilemma“ zu sehen: Die Steuerung eines Smartphone-Nutzers durch ständig aufs Neue ködernde Meldungen.

Wenn wir in Zukunft einen Generalstreik vorhätten, würden wir mit Warnungen davor überschwemmt, die Generalstreik-Organisatoren würden verunglimpft, und alle Beweggründe und Ziele durch den Dreck gezogen. Kein Polizist müsste einen Finger krumm machen. Denn wenn niemand hinginge, müsste niemand – und also auch kein Aus- oder Aufstand – niedergeschlagen werden.